(Ich werde im Sommer-Semester ein Seminar zum Thema "Rache" machen und habe mir vorgenommen, zur Vorbereitung Situationen aufzuzeichnen, in denen ich mich rächen möchte - es aber, vermutlich, nicht tue.)
Eine sehr banale, in der Großstadt fast unvermeidliche Situation: Gestern Nacht wurde in der Wohnung über unserer eine Party gefeiert. Bis nach zwei Uhr lief laute Musik, dazu Stimmen, Lachen, Gepolter. Ich habe gegen diese Nachbarn schon seit längerem eine Abneigung, und der Ärger über die Lärmbelästigung ließ all das wieder hochkochen. (Es wäre wahrscheinlich lohnend, die Motive zu analysieren, die in dieser Abneigung verflochten sind: Sowieso sind sie laut - es gibt kleine Kinder, die herumtoben, aber auch einen 15jährigen Jungen, der eine dumpf polternde Art hat, was ich ihm umso mehr übel nehme, weil er gegen mein Bild des zarten sensiblen Jungen verstößt, gewissermaßen das Ideal seines Alters beleidigt. Dazu strahlt E., die Mutter und/oder Adoptivmutter - ich kenne die Verhältnisse nicht genau, obwohl wir schon Jahre zusammen wohnen und das hier eine Hausgemeinschaft ist - eine Mischung von Freundlichkeit und Feindseligkeit aus, mit der ich nichts anfangen kann. Einmal, als sie mit R. zusammen im Treppenhaus steht und mich nach E. fragt, die in New York ist, antworte ich nicht bündig, erkläre etwas umständlich, und sie rollt genervt die Augen, wendet sich ab. Es gibt wahrscheinlich mehrere Zwischenfälle wie diesen - jener klein, für sich unbedeutend, als Sache vergessen, emotional jedoch nicht...)
Ich bin nicht gesund und nach einem anstrengenden Arbeitstag trotz Erkältung, Magenproblemen, einem Zahn, der nach dem Zahnarztbesuch beim Draufbeißen schlimmer wehtut als vorher (eine weitere Quelle von Ärger und Frustration), sehr erschöpft. Ich will früh schlafen. Aber bei dem Lärm ist es unmöglich. R., weniger geräuschempfindlich beim Einschlafen, hat sich hinten ins Bett gelegt. Ich liege vorn, lese, kann mich kaum konzentrieren, die Zeilen verschwimmen vor den Augen. Oben die Bässe und das Schlagzeug dämlicher Heavy Metal-Musik. Zudem stellt immer wieder jemand leise, dann wieder jemand ganz laut, jemand drückt einen anderen Song, jemand wieder zurück... Ich habe Kopfschmerzen. Ich hole mir den Rechner aufs Bett, chatte mit zwei Bekannten, die zum Glück online sind, schaue nebenbei Pornos, hole mir irgendwann einen runter. Schließlich greife ich das Kopfkissen und die Decke, schlucke zwei Paracetamol, schlurfe nach hinten, zwänge mich neben R. in das für Zwei (jedenfalls für uns) eigentlich zu enge Bett.
Was ich an dieser Situation noch mehr hasse als die Belästigung selbst, ist, dass sie mich dazu zwingt, das Hinnehmen zu wählen: Ich könnte ja hoch gehen und um Ruhe bitten. Ich könnte hoch gehen und mich beschweren. Ich könnte die Bullen rufen und für Ruhe sorgen lassen. Aber die Vorstellung, das zu tun (derjenige zu sein, der das tut), ist mir so widerwärtig, dass ich eher leide. Und mich über mich selbst ärgern muss, weil ich so bin. Doppelte Gewalt also: mich nötigen, den Lärm ihres Vergnügens anzuhören - und meine Hilflosigkeit auszunutzen (wenn die da oben vermutlich nicht einmal bemerken, dass es sich beim Ausbleiben der Beschwerde um Hilflosigkeit handelt, macht das die Gewalt nur roher). Das Mindestmaß an Rücksicht, sage ich mir, wäre gewesen, uns vorher Bescheid zu sagen, dass es an diesem Abend laut wird. Vorweg um Entschuldigung zu bitten. Zu zeigen, dass einem die Mitmenschen nicht egal sind.
Meine Rachephantasien haben es in dieser Situation schwer, sich überhaupt zu bilden, da die Übermacht der anderen so deutlich ist. Der Hass bleibt kraftlos. Das Einzige, was mir einfällt: morgens früh um sieben meinerseits die Musik auf maximale Lautstärke zu drehen und den Jungen (dessen Zimmer offenbar direkt über meinem liegt) nach vier Stunden aus dem Schlaf reißen. Ich stelle mir vor, wie ich die Balkonfenster öffne, damit es noch lauter für ihn wird, und bei schmerzhaft plärrender Anlage die Tür schließe, nach hinten ins Bad gehe, dusche - nein, noch besser, ein Morgenbad nehme (朝風呂 - im Japanischen gibt es dafür einen eigenen Ausdruck, da es sich um einen besonderen Genuss handelt). Während mein Körper im heißen Wasser schließlich entspannt, spürt er, wie es ist, am Schlafen gehindert zu werden.
Aber natürlich müsste ich dafür selber um sieben Uhr aufstehen. Und wahrscheinlich macht einem robusten Fünfzehnjährigen eine schlaflose Nacht viel weniger aus als mir. Und es würde die Stimmung weiter verschlechtern, am Ende wären sie sicher die Lauteren usw. Kurz - ich tue es nicht. Im Seminar wird es zuerst darum gehen, warum Rache 'bei uns' (wer sind 'wir'?) in der Regel nicht ausgeführt wird. Umso bemerkenswerter die Ausnahmefälle, in denen sie es doch wird.
wernurwer - 22. Feb, 15:12